Die Ersteigung der Festung Königstein durch Sebastian Abratzky im Jahr 1848

von ihm selbst erzählt


Titelblatt des Büchleins von Sebastian Abratzky

...Über meine erste Lehrlings- und Gesellenzeit brauche ich wohl meinen lieben Lesern nicht viel zu erzählen. Die Schornsteinfegerjungen sind alle wilde und verwegene Buben, ich aber war einer der wildesten und übertraf sie alle an Tollkühnheit. Meine Meister konnten mich wohl gebrauchen, aber meine tollkühnen Streiche gefielen ihnen weniger, und so war ich denn viel auf der Wanderschaft. So war es denn auch im Jahre 1848. Die Eltern waren mir inzwischen gestorben; wollte ich nicht hungern, so mußte ich Arbeit suchen. Eben wurde die sächsisch-böhmische Eisenbahn gebaut, da wollte ich mithelfen und bekam auch im Städtchen Königstein Arbeit zugesichert. Gänzlich ohne Geld war ich sonnabends angekommen, und erst am künftigen Montag sollte das Verdienen beginnen. Wovon einstweilen leben? Mit vieler Mühe gelang es mir endlich, im Gasthof ein Unterkommen zu finden und gegen Abgabe meines Passes etwas zu Essen zu erhalten. Mit schwerem Herzen schlief ich auf meiner Streue ein. Bei meinem Erwachen fand ich mich von meinem Schlafgenossen verlassen. Es war ziemlich spät, die Glocken läuteten bereits zur Kirche. Ich hatte nichts zu versäumen und überlegte, wie ich den Sonntag verbringen wollte. In die Gaststube wagte ich mich nicht, weil ich nicht bezahlen konnte; leise schlich ich mich ins Freie, um mir die Gegend genauer anzusehen. Vor mir lag die Festung, die 1400 Fuß hohe und allbekannte Felsenveste, und erregte meine vollste Aufmerksamkeit. Ich stieg darauf los und fragte die mir begegnenden Leute, ob man in die Festung dürfe. Wer Bekannte oben habe, hieß es, oder 1 Thlr. 10 Sgr. zahle, der könne hinein. Mir fehlte das eine wie das andere; ich begnügte mich deshalb mit der äußeren Ansicht und sprang - ich war damals 18 Jahre alt - ohne mich um den Weg zu kümmern, den Berg hinauf. Bald stand ich auf dem sogenannten Patrouillenweg am Fuße des hohen Sandsteinfelsens, auf dem die Festung erbaut ist. Es war die Ostseite und zugleich die steilste Felsenpartie.

Ich blickte an der Felsenwand hinauf und gedachte eines Gesprächs, das einst während der Lehrzeit zwischen Meister und Gesellen geführt wurde. Sie redeten vom Königstein, und der Geselle behauptete, es sei möglich, in die Festung zu kommen, ohne auf dem gewöhnlichen Wege durchs Tor zu gehen. Mein alter Meister schüttelte den Kopf; es kam ihm unglaublich vor; ich hörte still zu. Jetzt stand ich vor der Felsenwand und sah darin die Risse und Spalten, von denen damals der Geselle gesprochen hatte. Wie ein Blitz fuhr mir der Gedanke durch die Seele, gleich auf der Stelle hinauf zu steigen. Das konnte ein Mittel werden, alle meine Verlegenheiten zu beseitigen: Ich komme glücklich hinauf, man lacht, wundert sich darüber, gibt mir zu essen, vielleicht belohnt man mich sogar für mein Wagnis mit Geld. Und wenn mir das Glück recht günstig, so treffe ich dort oben meinen Bruder, der Soldat war.

Ich rüste mich zum Aufsteigen. Genau besehe ich die Felsenrisse; nur einer führt bis hinauf. Er ist oben mit der Brustwehr überwölbt - einmal dort, werde ich mich leicht über die niedrig scheinende Mauer hinwegschwingen können Die Stiefel würden mich beim Steigen hindern; ich entledige mich ihrer, binde sie zusammen und hänge sie um den Hals, so daß sie an der Brust liegen. Meinen Stock, den ich mir kurz zuvor im Walde abgeschnitten hatte, lehnte ich neben den Felsenriß und kletterte nun in demselben wie in einem Schornstein hinauf. Ich weiß nicht, lieber Leser, ob Sie schon einmal einen Schornsteinfeger haben steigen sehen. Wir gebrauchen dabei besonders das Knie, stemmen es gegen die Vorderwand, mit dem Rücken lehnen wir uns fest an die Hinterwand und schieben uns so die Esse hinauf. Die Hände gebrauchen wir dabei weniger, die haben mit dem Besen zu tun. Auf diese Weise stieg ich im Risse in die Höhe. Dieser mochte im Durchschnitt etwa 1 1/2 Ellen breit sein, wurde manchmal schmäler, erweiterte sich aber manchmal auch bis zu zwei Ellen. Vor und hinter mir hatte ich Felsen, linker Hand das Elbufer und rechts den immer enger werdenden, sich im Felsen verlaufenden Riß. Soviel als möglich suchte ich an der Außenseite des Felsenvorsprunges zu klettern, da er nach innen zu naß und schlüpfrig wurde.

Meine Kräfte waren noch frisch; ich stieg im Anfang rasch vorwärts und war schon ein hübsches Stück in die Höhe, als es im Städtchen 10 Uhr schlug. Hier und da wuchsen auf meinem Wege kleine Gebüsche, besonders Stachelbeersträucher. Beim geringsten Versuch, mich daran festzuhalten, gaben sie nach und stürzten in die Tiefe hinab, sie waren im Felsen zu locker eingewurzelt. Immer höher stieg ich, aber auch immer öfter mußte ich innehalten, um neue Kraft zu gewinnen. So bin ich etwa die Hälfte hinauf, da stoße ich auf einen Sandsteinblock, der im Risse klemmt. Wahrscheinlich war er beim Bau der Brustwehr heruntergefallen und hier hängengeblieben. Ich versuche, ob er fest liegt, trete darauf, setze mich, er wankt nicht. Neuer Mut durchströmt meine Adern - ich kann ausruhen.

Da sitze ich nun, mit dem Rücken der Festung zugekehrt, und freue mich der schönen Aussicht. Tief unten liegt das Städtchen. Die Elbe blitzt im Sonnenscheine, und gleich Nußschalen schwimmen die Schiffe auf ihr hin. Mir gegenüber erhebt sich der Lilienstein usw.

Ich steige in meiner Spalte weiter. Plötzlich prasselt unter mir etwas den Riß hinunter; mir ist's, als wenn der Felsen wanke - erschreckt halte ich inne. Mein Ruhestein, jedenfalls durch meine Körperschwere gelockert, ist hinuntergestürzt. Einige Minuten früher, und ich lag mit ihm dort am Felsen zerschellt. Ich schaue hinab in die gähnende Tiefe, ein kalter Schauer überläuft mich. - Glauben Sie aber nicht, lieber Leser, daß ich deshalb ängstlich wurde. Schornsteinfeger sind solche Dinge schon gewöhnt, und ich kenne überhaupt Furcht nur dem Namen nach.

Gewaltsam raffe ich mich zusammen und klettere weiter. Wieder erschwert mir im Spalt wachsendes Gebüsch den Weg. - Vorwärts! - Der Felsenriß wird enger, kaum kann ich mich hindurchwinden, er erweitert sich, ich kann ihn kaum noch ausspannen. Die Zeit beginnt mir entsetzlich lang zu werden. Mir ist's, als ob ich schon tagelang in dieser Spalte stecke. Wenn mich jetzt Schwindel erfaßt! - Wenn ich ausgleite, rettungslos bin ich verloren! Ich schaue empor, ob ich bald am Ziele bin. Der Riß windet und krümmt sich, ich kann das Ende nicht erblicken. Ein fieberhaftes Drängen ergreift mich. Höher, höher! - Der Spalt wird breiter und breiter, jetzt kann ich nicht mehr ausspannen, und somit auch nicht weiter klettern. Über mir wölbt sich die Brustwehr, sie ragt über den Felsen hervor. Von unten so unbedeutend aussehend, stellt sie sich mir entsetzlich groß, ein unüberwindliches Hindernis, entgegen. Kalter Schweiß rinnt mir über die Stirn. Ich kann nicht weiter. Ich bin verloren, und aus der Tiefe schaut der Tod zu mir herauf. Jeder Nerv spannt sich. An die Außenseite des Risses kletternd, beuge ich mich so weit als möglich hervor und sehe umher, ob Rettung möglich. Dort, etwa zwei Ellen von mir, ist ein Felsvorsprung. Wenn ich ihn erreichen könnte! Ein Vöglein fliegt zwitschernd vorüber und läßt sich auf ihm nieder. Der Vorsprung verläuft sich nach dem Risse zu, so daß er vielleicht eine halbe Elle davon als handbreit vorstehende Felsenkante erscheint. - Könnte das meine Rettung werden? Ich hatte mich wieder gefaßt. Langsam griff ich hinüber; gleich eisernen Klammern gruben sich meine Finger in die Felsenkante. Jetzt fühlte ich, daß die Hände fest ruhten, und zog nun den Körper allmählich nach. So hing ich an der steilen gegen 400 Fuß hohen Felswand da, mich nur auf die Kraft meiner Finger verlassend. Wider Willen zwang es mich, in die Tiefe zu schauen; ich konnte sie nicht mit den Augen ausmessen. In diesem Augenblick der höchsten Gefahr war ich am besonnensten, ich wußte, daß ich das Letzte wagte. Eine Hand der anderen nachgreifend und so mit gebogenen Armen weiterklimmend, gelang es mir, mein Ziel zu erreichen. Ich hob mich empor, legte mich mit dem Oberkörper auf den Vorsprung und - war gerettet. Es währte ziemliche Zeit, ehe ich mich soweit erholt hatte, daß ich an die Vollendung meiner Reise denken konnte. Ich besah mir meinen derzeitigen Aufenthalt. Der Vorsprung ist etwa 4 Quadrat-Ellen groß. Vor mir erhob sich die 5 Ellen hohe, glatte Brustwehr, Sie ist aus großen, in Kalk eingesetzten Sandsteinquadern erbaut; Wind und Wetter haben im Laufe der Jahre den Kalk zwischen den Steinen mehrere Zoll tief ausgewettert. Ich hänge meine Stiefel wieder um, aber jetzt so, daß sie auf den Rücken zu liegen kommen, greife mit den Fingern in die Steinfuge. Die obersten Steine sind glatt und schräg gearbeitet und stehen wenigstens eine halbe Eile gleich einem Dache vor. Zwischen diesen schräg liegenden Steinen, die zum Glück nicht so breit sind, kann ich mit der ganzen Hand hineingreifen. Ich versuche erst, durch eine Schießluke hinein zu steigen, doch die sind zu glatt ausgearbeitet; ich muß daher über eine Erhöhung zwischen zwei Luken klettern. Mit der rechten Hand mich in einer Fuge festhaltend, gebe ich der linken einen Schwung und suche die innere, oberste Mauerkante zu ergreifen. Es gelingt. Ich fasse fest an, ziehe die rechte Hand nach, erhebe den Körper und schaue ins Innere der Festung. Mir gegenüber ist ein Haus, dahinter Wald, rechts und links die Schildwachen, die auf mich zukommen. Ein Augenblick ist hinreichend, mich dies sehen zu lassen. Schnell beuge ich mich mit dem Kopfe nieder, um nicht von den Schildwachen bemerkt zu werden.

Während ich wie eine Schwalbe an der Mauer klebte, mich nur mit den Händen knapp an der Kante haltend, läuten unter mir in der Stadt die Glocken zu Mittag. Da überkam mich das Zittern. - Lieber Leser, wir Schornsteinfeger wissen, was dies zu bedeuten hat. Die Kraft wird plötzlich alle, die Sinne schwinden, Hände und Füße ziehen sich krampfhaft zusammen und - im nächsten Augenblick stürzt man herunter. Da raffte ich meine letzten Kräfte zusammen. Jetzt oder nie! Ein gewaltiger Schwung, ein gewaltiges Heben, und ich bin in der Festung. In demselben Augenblick durchzuckt mich ein entsetzlicher Schmerz; ein eiserner Pflock, auf den ich gesprungen, drängte sich zwischen die beiden kleinen Zehen des rechten Fußes und reißt mir die Hälfte derselben weg. Durch den Blutverlust und die Anstrengungen erschöpft, wanke ich noch einige Schritte und sinke dann halb ohnmächtig auf den Rasen hin.

Nach einiger Zeit bemerkte mich die Schildwache. Mein Anzug, aus einem Soldatenfracke, schwarzen Beinkleidern und einer braunen Plüschmütze bestehend, mochte ihr doch etwas feindlich vorkommen. ,,Wer da?” rief mich die Schildwache an. ,,Sebastian Abratzky aus Mahlis!” - ,,Wie sind Sie hierher gekommen?” - ,,Dort herauf !” - Dies schien dem Soldaten Spaß zu machen; indeß meine ganze Erscheinung, die verwundeten Füße, die Blutspuren erregten doch sein Bedenken und er erklärte, mich arretieren zu müssen. Das war gegen meine Berechnung, lieber wollte ich wieder über die Brustwehr den Felsen hinabklettern. Natürlich wurde ich daran gehindert und mußte mich in mein Geschick fügen. Eine Schildwache rief der anderen die unerhörte Neuigkeit zu. Die Patrouille kam, zufälligerweise auch der Adjutant, und wir marschierten der Hauptwache zu; voran der Offizier. dann ich entblößten Fußes und mit den Stiefeln auf dem Rücken, hinter mir die Wache. Ich war aufs äußerste ermattet, der Hunger peinigte mich ganz entsetzlich, und ich hatte nur den einen Wunsch, recht bald etwas zu essen. Der Offizier, der vor mir herschritt, und den ich seines Federhutes halber für den Festungs-Kommandanten hielt, konnte vielleicht zur Befriedigung meines heißesten Wunsches beitragen; ich bat ihn deshalb um etwas zu essen. Mein Versuch mißglückte aber, ich erhielt nicht einmal Antwort. Wir kamen zur Wache. Die Kunde meines Wagnisses hatte sich bereits verbreitet, und neugierig schauten die Soldaten den kecken Schornsteinfeger an. Alles lief zusammen. Bald erschien der Kommandant, und nach vorläufigem Verhör wurde ich in die sogenannte Mohrenkammer abgeführt, ein Gefängnis, das besser ist, als der Name vermuten läßt. Meine Bitte um Essen war doch nicht ganz fruchtlos gewesen, und es läßt sich denken, daß ich tüchtig zugelangt habe. Der Nachtisch wurde mir aber bitter verdorben. Meine Tür öffnete sich, ein Offizier trat herein, von einem Korporal und dem Schließer begleitet; ich wurde an Händen und Füßen gefesselt. Vergebens beteuerte ich meine Harmlosigkeit; ich weinte und bat; es half alles nichts - die Tür schloß sich, und ich war allein mit meinen Ketten und meinen Gedanken. Was sollte das werden? Mir bangte vor der Zukunft. Ich erhob die Hand, die Kette klirrte. Beim genauen Besehen derselben fand ich, daß sich die Schelle mit leichter Mühe abstreifen ließ. Jetzt regte sich mein Stolz. Soll ich einmal Fesseln tragen, so mögen es auch solche sein, die mich drücken. Ich rief den Schließer, der bald eine andere Kette brachte. Am andern Morgen trieb mich die Langeweile zur abermaligen Untersuchung meines Fußgeschmeides. Das Schloß war ein sogenanntes deutsches; mit Hilfe eines krummgebogenen Nagels gelang es mir, dasselbe zu öffnen, und ich verkündete dem außenstehenden Soldaten, daß ich mich durch die schwarze Kunst fessellos gemacht habe. Eiligst kam der Wachtmeister mit der 3. Kette.

Inzwischen war das Kriegsgericht zusammengetreten, und ich wurde vor dasselbe zitiert. Auf Befehl des Auditeurs fielen meine Fesseln. Ein scharfes Examen begann. Ich war sehr ruhig und erzählte den Herren einfach das, was ich soeben mitgeteilt habe.

Im Anfang mochte man wohl meinen, es sei Gefahr vorhanden; man wollte nicht glauben, daß ich einer so geringen Sache halber das Leben gewagt; indeß stellte sich meine Ungefährlichkeit gar bald heraus. Fessellos wurde ich zurückgeführt. Man behandelte mich freundlich und heilte meine verwundeten Füße. Am zehnten Tage meiner Gefangenschaft erschien in meiner Zelle eine Patrouille, aus einem Korporal und einem gemeinen Soldaten bestehend. Draußen erwartete uns der Kommandant, in seinem Gefolge der Adjutant und ein Maurermeister. Ich mußte genau die Stelle meines Einsteigens angeben. Dann gingen wir auf dem gewöhnlichen Fahrwege hinunter, und auch hier mußte ich den Felsenriß bezeichnen, in dem ich hinaufgekommen war. Zugleich erbot ich mich, die Reise noch einmal vorzunehmen, wurde aber bedeutet, daß man von der ersten Probe genug habe. Ich wurde darauf in das Gefängnis zurückgebracht.

Anderntags stellte man mich abermals vors Kriegsgericht und verkündete mir meine Freiheit mit der Bemerkung, daß ich mich in meine Heimat zu verfügen habe. Die Untersuchungshaft, die nun bereits 12 Tage gedauert hatte, sollte ich als Strafe für meine Verwegenheit ansehen. Mitleidige Seelen hatten Reisegeld für mich gesammelt. Der Wachtmeister führte mich zum Tore hinaus, gab mir meinen Paß, und ich war wieder ein freier Mann. Der Paß lautete:

„Der hier vom 19. bis heute wegen unbefugten Einsteigens in Haft gewesene Johann Friedrich Sebastian Abratzky wird nach beendigter Untersuchung über Dresden und Wilsdruff in seine Heimat nach Mahlis gewiesen. Festung Königstein, den 31. März 1848 Das Königliche Kriegsgericht daselbst”

Eine lustige, einträgliche Fahrt war aber die Reise in meine Heimat. Wohin ich kam, da mußte ich mein Abenteuer erzählen - und dann sammelte man für mich.


P.S.: Der Abratzkykamin am Königstein ist im heutigen Kletterführer mit der Schwierigkeit IV bewertet. Das Übersteigen der Festungsmauer ist auch heutzutage untersagt.


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Dokument vom 8.11.97